Evangelisches Dekanat Odenwald

Zum 9. November - Vorträge

Wenn Überleben als Schuld erscheinen kann

Erbach/Michelstadt. Nach den Novemberpogromen 1938 gegen jüdische Mitbürger, Geschäfte und Synagogen begann eine Rettungsaktion für Kinder und Jugendliche, die unter dem Stichwort 'Kindertransport' in die Geschichte einging. Rund 15.000 junge Menschen konnten so vor den Nationalsozialisten gerettet werden. Über dieses Thema sprach die Historikerin und Journalistin Lilly Maier (München), die auf Einladung von Theresa Möke, Referentin für Gesellschaftliche Verantwortung im Evangelischen Dekanat Odenwald, gekommen war. In der Erbacher Stadtkirche erinnerte Maier daran, dass die meisten der Kinder in Großbritannien in Pflegefamilien oder Heimen Aufnahme fanden. "Einige wurden aber auch nach Schweden, in die Beneluxländer, die Schweiz oder in die USA gebracht", erinnerte sie - sowie nach Frankreich, welches Unterkapitel den besonderen Forschungsschwerpunkt der Historikerin Maier darstellt. Deutlich wurde in ihrem Referat auch, dass manche der Kinder nach dem späteren Überfall Deutschlands auf die jeweiligen Gastländer noch weiter fliehen mussten, wie etwa im Fall von Frankreich oder den Beneluxstaaten.

Zunächst waren in Deutschland und Österreich hohe bürokratische und auch ärztliche Hürden zu überwinden, bevor die Kinder überhaupt eine Ausreisegenehmigung bekamen. Die Abfahrt erfolgte dann oft sehr plötzlich und wurde wie ein Schock erlebt, legte Maier dar. Viele Kinder fühlten sich abgeschoben, sahen ihre Ausreise als Strafe an. Die Trennung von Eltern, Großeltern und Geschwistern stellte ein schweres Trauma und eine Bürde für das weitere Leben dar. Oftmals belasteten Schuldgefühle die 'Kinder', die auch später weiterhin so bezeichnet wurden, um diese gemeinsame Geschichte zu verdeutlichen; so trieb viele etwa die Frage um, warum sie überlebt haben, ihre ganze Familie aber ermordet wurde. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 endeten die Kindertransporte abrupt.

In den Gastländern fassten die Kinder in der Regel Fuß, viele wurden in ihren Berufen sehr erfolgreich, und die meisten gründeten eigene Familien. "Aber lange wurde über diese Geschichte geschwiegen", so Lilly Maier. Erst in den Achtzigerjahren, also etwa 50 Jahre später, kam nach und nach Interesse an diesem Kapitel der Geschichte auf. Auch die 'Kinder', die in den meisten Fällen gleich nach Ankunft getrennt worden waren, fanden nach und nach zusammen, und unter ihnen entstand spät erst das Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft. Das Interesse an den eigenen Wurzeln führte einige von ihnen erstmals zurück nach Deutschland sowie nach Wien oder Prag. "Gemeinsamkeit ist identitätsstiftend", erklärte Historikerin Maier. Die 'Kinder' seien wie eine große Familie.

Bereits am Nachmittag hatte Lilly Maier vor Konfirmanden in der Michelstädter Stadtkirche aus ihrer Arbeit berichtet - hier freilich noch mit einem ganz persönlichen Bezug. Der Ausgangspunkt ihrer Forschungen zur Kindertransport-Thematik liegt nämlich in einer privaten Begegnung aus Kindertagen, aus der eine innige Freundschaft wurde. Arthur Kern aus Kalifornien hatte als Kind bis 1939 in dem Haus in Wien gelebt, in dem Lilly Maier später in den Neunzigerjahren aufwuchs. Als Kern auf der Suche nach seinen Wurzeln nach Wien kam, von wo er als Zehnjähriger von seinen Eltern auf einen Kindertransport geschickt worden war, begegneten die beiden einander. Aus dieser Erfahrung und den folgenden jahrelangen Recherchen entstand Lilly Maiers erstes Buch 'Arthur und Lilly'. In ihrem Michelstädter Vortrag erstand für die junge Zuhörerschaft ein plastisches Bild einer glücklichen und zunächst sorglosen Kindheit in den frühen Dreißigerjahren. Der 'Anschluss' Österreichs an das Deutsche Reich 1938 änderte gleichsam über Nacht alles. Im März 1939 konnte der Junge ausreisen, was ihn zunächst nach Frankreich und später in die USA führte. Sein älterer Bruder und seine Eltern wurden im Krieg nach Polen in ein Ghetto deportiert, wo sich ihre Spuren verlieren. Einige wenige Fotos, die der Junge mitnahm, blieben seine einzigen Andenken. 2015 starb er, weit über achtzig Jahre alt, in den USA, wo er beruflich in der Raumfahrttechnik erfolgreich gewesen war und seine eigene Familie gegründet hatte.

 

Bernhard Bergmann
11.11.2021


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